Digital-Event „Zi insights“ beleuchtet mögliche Gründe für Anstieg von Krankmeldungen

Zi-Analyse: Krankschreibungen per Telefon und Video nicht ursächlich für deutlichen Anstieg der Arbeitsunfähigkeitsfälle // Erhöhte Erfassungsrate seit Einführung der eAU sowie hohe Infektionswellen maßgeblich für gestiegene Meldezahlen

Statistiken zur Entwicklung der Arbeitsunfähigkeitsfälle (AU-Fälle) zeigen, dass es in den letzten Jahren, und insbesondere seit dem Jahr 2022, zu einem deutlichen Zuwachs an AU-Fällen gekommen ist. So lag die Anzahl an AU-Fällen bei den größten gesetzlichen Krankenkassen im Jahr 2021 je nach Krankenkasse zwischen 95 und 149 Fällen pro 100 Versichertenjahren und im Jahr 2023 zwischen 181 und 225 Fällen pro 100 Versichertenjahren. Dies entspricht einem Anstieg von bis zu 95 Prozent. Parallel zu diesen Entwicklungen zeigt die jährlich vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales veröffentlichte Statistik zum Sozialbudget, dass sich die Ausgaben für Entgeltfortzahlungen im Zeitraum von 2010 bis 2023 auf 67,9 Milliarden Euro verdoppelt haben.

Die Ursachen dafür sind vielschichtig: So ist zu vermuten, dass neben dem gestiegenen Krankenstand auch die in den letzten Jahren gestiegenen Bruttoentgelte und der erfolgte Beschäftigungsaufbau eine maßgebliche Rolle für diese Entwicklung spielen. Von den großen Arbeitgeberverbänden wird in diesem Zusammenhang allerdings insbesondere der hohe Krankenstand problematisiert, dessen Ursache in der Einführung der telefonischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gesehen wird. Genährt wird diese Hypothese durch den in den letzten Jahren erfolgten Marktzutritt digitaler Videodienstanbieter, die eine niedrigschwellige Möglichkeit der Ausstellung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ermöglichen.

Vor diesem Hintergrund hat das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) gestern Nachmittag im Rahmen seines Livestreaming-Formats „Zi insights“ eine gemeinsam mit der BARMER erarbeitete empirische Analyse der möglichen Ursachen für die stark angestiegene Zahl der Arbeitsunfähigkeitsmeldungen vorgestellt sowie mit Expertinnen und Experten aus Arbeitgeberverbänden, Betriebskrankenkassen und vertragsärztlicher Praxis diskutiert.

Die Zi-Analyse auf Basis der pseudonymisierten Arbeitsunfähigkeitsdaten und der vertragsärztlichen Abrechnungsdaten der BARMER für die Jahre 2020 bis 2023 hat keinerlei Hinweise dafür gefunden, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung per Telefon bzw. per Videosprechstunde die maßgebliche Treiberin des gestiegenen Krankenstandes in Deutschland ist. Die Auswertungen deuten vielmehr darauf hin, dass die Bedeutung der telefonischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mit einem Anteil von jährlich 0,8 bis 1,2 Prozent an allen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für die Gesamtentwicklung der AU-Fälle sehr gering ist, und dass damit der ab dem Jahr 2021 zu beobachtende Anstieg des Krankenstandes nicht erklärt werden kann. Gleiches gilt für die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung per Videosprechstunde, die mit einem jährlichen Anteil von 0,1 bis 0,4 Prozent an allen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen noch geringer ausfällt.

Wahrscheinlicher ist, dass ein Zusammenwirken eines postpandemisch höheren Infektionsgeschehens mit einer erhöhten Erfassungsrate von AU-Bescheinigungen seit der Einführung der elektronischenArbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) zu einem Anstieg der AU-Raten seit dem Jahr 2021 geführt hat. So hat die Zi-Untersuchung gezeigt, dass 58 Prozent der zusätzlichen AU-Fälle des Jahres 2022 und 41 Prozent der zusätzlichen AU-Fälle des Jahres 2023 durch akute Infektionen der Atemwege sowie Corona-Infektionen zu erklären sind. 

Dr. Eckart Lummert, niedergelassener Facharzt für Allgemeinmedizin und Vorsitzender der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen, machte deutlich, dass die Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung bei Patientinnen und Patienten ohne schwere Symptomatik eine wichtige Maßnahme zur Entbürokratisierung und Entlastung der Praxen sei. Dies gelte auch für den erweiterten Infektionsschutz in den Wartezimmern der Arztpraxen, wenn sich insbesondere atemwegserkrankte Patientinnen und Patienten nicht persönlich vorstellen müssten. Insofern müsse an der telefonischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen unbedingt festgehalten werden. Gleichwohl seien auch die niedergelassenen Hausärztinnen und Hausärzte gefordert, ihre Krankschreibungspraxis mit Bedacht zu differenzieren. Insbesondere in den sehr wenigen Fällen, wenn Patientinnen und Patienten etwa für einen längeren Zeitraum krankgeschrieben werden wollten. Bei Verdachtsfällen bestelle er diese immer zu einer persönlichen Untersuchung in seine Hausarztpraxis ein. Das stärke die Vertrauenskultur und vermeide gefühlte Gerechtigkeitsprobleme. Die große Mehrheit der Patientinnen und Patienten sei in den Hausarztpraxen aber persönlich bekannt, das gegenseitige Vertrauensverhältnis verhindere den Missbrauch der Tele-AU also per se, so Lummert.

Auch Anne-Kathrin Klemm, Alleinvorständin des BKK Dachverbandes, bekräftigte, dass ein Missbrauch der telefonischen Krankschreibung auch wegen fehlender Kennzeichnung nicht belegbar sei und daher die immer wieder erhobene Forderung nach Aufhebung der entsprechenden Regelungen wegen vermeintlichen Missbrauchs ins Leere liefe. Bevor man also die Telefon-AU abschaffe, müsse zunächst Transparenz über Ursache und Wirkung hergestellt werden. Die Telefon-AU entlaste Arztpraxen und Personal. In Ergänzung dazu sei die digitale Ersteinschätzung ein weiteres zentrales Element für eine konsistente Patientensteuerung, um Effizienzreserven im Gesundheitssystem zu heben und die Arztpraxen weiter zu entlasten. Ein nachweislich erhöhtes Infektionsgeschehen bei den Atemwegserkrankungen könne jedenfalls durch die Aufhebung der erfolgreich etablierten Regelungen zur Krankschreibung nicht kaschiert werden. Die Corona-Pandemie habe die Sensibilität der Beschäftigten für Krankheitssymptome geschärft, so dass sie sich bei ersten Anzeichen schneller krankschreiben ließen, auch um Kolleginnen und Kollegen bei der Arbeit zu schützen. Dies zu kritisieren sei fragwürdig. Eine ausufernde Misstrauenskultur müsse durch eine innerbetriebliche Vertrauenskultur abgelöst werden, die durch gegenseitige Wertschätzung und Verlässlichkeit bestimmt sei. Hier stehe ausdrücklich auch der Arbeitgeber in der Verantwortung, so Klemm weiter.

Dr. Susanne Wagenmann, Leiterin der Abteilung Soziale Sicherung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), hob hingegen hervor, dass sich die Arbeitgeber auch aufgrund der enorm hohen Kosten, die diesen durch die Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall entstünden, auf den hohen Beweiswert und die medizinische Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen unbedingt verlassen können müssten. Alleine im Jahr 2024 seien den Arbeitgebern dadurch Kosten in Höhe von insgesamt 82 Milliarden Euro entstanden. Der Goldstandard der Krankschreibung müsse weiterhin der persönliche Arzt-Patientenkontakt bleiben, wahlweise ergänzt durch die ärztliche Videosprechstunde. Die telefonische AU müsse wegen der potenziellen Missbrauchsgefahr abgeschafft werden, ebenso sämtliche Möglichkeiten der unpersönlichen Krankschreibung über Online-Portale. Denn: Nach aktuellen Umfragen von Krankenkassen ließen sich acht und mehr Prozent der Beschäftigten ohne triftigen Grund krankschreiben. Um diese Anteile weiter zu senken und damit die hohen Arbeitskosten zu reduzieren, sei es auch für die gesellschaftliche Akzeptanz wichtig, etwaige Fehlanreize wirksam zu beseitigen, so Wagenmann abschließend.

Mit dem virtuellen Kommunikationsformat Zi insights stellt das Zi alle 2-3 Monate kurz und knapp neue Studien- und Projektergebnisse vor, um diese mit Expertinnen und Experten sowie digital zugeschalteten Gästen zu diskutieren.

Den Programmflyer der gestrigen Ausgabe„Krankmeldungen im Fokus – Was sagen Daten, was denkt die Praxis über die Tele-AU?“finden Sie hier.

Der Mitschnitt des Livestreams sowie die präsentierten Folien stehen Ihnen hier zur Verfügung.


Die Medieninformation zum Download.
 

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Daniel Wosnitzka

Leiter Stabsstelle Kommunikation / Pressesprecher