"GVSG könnte zur Abrissbirne der hausärztlichen Versorgung werden"

Ende März 2024 ist bereits der dritte nicht-offizielle Referentenentwurf eines Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetzes (GVSG) bekannt geworden. Der neue Entwurf sieht auch die Einführung einer jährlichen Versorgungspauschale für chronisch kranke Patientinnen und Patienten vor. Hierzu erklärt der Vorstandsvorsitzende des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi), Dr. Dominik von Stillfried:

„Die vom Bundesministerium für Gesundheit mit § 87 SGB V geplante tiefgreifende Veränderung der hausärztlichen Vergütungsstruktur wird zur Chaotisierung der hausärztlichen Versorgung beitragen und hat das Potenzial, die medizinische Versorgung chronisch Kranker massiv zu beinträchtigen. Konkret: Pro Jahr rechnen die hausärztlichen Praxen gegenüber der gesetzlichen Krankenversicherung Leistungen im Wert von rund 13,7 Milliarden Euro ab. 8,6 Milliarden davon (63 Prozent) entfallen auf die Behandlung von chronisch kranken Versicherten. Innerhalb dieses Volumens soll es nun Umschichtungen geben.

Zum einen plant das Ministerium, eine jahresbezogene Versorgungspauschale einzuführen. Diese soll künftig ab dem ersten Kontakt eines chronisch kranken Patienten mit der Hausarztpraxis einmal jährlich abgerechnet werden können. Die jahresbezogene Versorgungspauschale ersetzt dann die bisher übliche Versichertenpauschale, die die Hausarztpraxen aktuell in jedem Quartal abrechnen, in dem mindestens ein Versichertenkontakt stattfindet. Ausweislich der Gesetzesbegründung sollen hausärztliche Praxisteams dadurch von Bürokratie und nicht erforderlichen Praxiskontakten der Versicherten, etwa zu Ausstellung von Folgerezepten, entlastet und so die Nachbesetzung altersbedingt freiwerdender Praxissitze unterstützt werden.

Tatsächlich dürfte die Maßnahme nach Einschätzung des Zi genau das Gegenteil dessen bewirken. Nach unseren Berechnungen wären Leistungen im Wert von 3,9 Milliarden Euro betroffen – also rund 45 Prozent der bisher für chronisch Kranke erbrachten Behandlungsleistungen. Dieser Betrag soll nicht erhöht werden. Allerdings soll die Versorgungspauschale je Versicherten nur von einer Hausarztpraxis abgerechnet werden dürfen, ohne dass Versicherte sich bei einer Praxis einschreiben müssen. Kontaktiert ein chronisch kranker Versicherter also künftig mehr als eine Hausarztpraxis, bliebe die zweite und gegebenenfalls dritte Praxis trotz erfolgter Behandlungsleistung ohne entsprechende Vergütung. Wer die Vergütung erhält, würden die Praxen aber erst im Nachhinein erfahren – im ungünstigsten Fall erst ca. 15-18 Monate nach der erfolgten Behandlung. Wer keine Versorgungspauschale erhält, hätte dann aber auch nicht mehr die Möglichkeit, die bisher übliche quartalsbezogene Versichertenpauschale abzurechnen und ginge damit weitgehend leer aus.

Bisher nehmen chronisch kranke gesetzlich Versicherte im Schnitt rund 1,45 Hausarztpraxen pro Jahr in Anspruch. Sie tun dies etwa infolge von Vertretungsregelungen oder Spezialisierungen einzelner Hausarztpraxen oder weil die Versicherten zwischen Wohn- und Arbeitsort pendeln bzw. aufgrund von Urlaub oder Umzug überörtlich mehrere Praxiskontakte erforderlich werden. Nur 65 Prozent der Betroffenen werden ausschließlich durch eine Hausarztpraxis behandelt. Für rund ein Drittel der behandelten Patientinnen und Patienten müssten Hausarztpraxen demnach künftig mit erheblichen unerwarteten Vergütungsausfällen trotz erbrachter Leistungen rechnen. Wird die Höhe der Versorgungspauschale zudem an der bisherigen Inanspruchnahmehäufigkeit der Hausarztpraxen durch chronisch Kranke ausgerichtet, dürfte sie in etwa dem Wert von drei bisherigen Versichertenpauschalen entsprechen. Für Hilfsbedürftige, die sich nur einmal pro Jahr vorstellen, würden die Praxen daher bei Umsetzung der Pläne nahezu das Dreifache der bisherigen Vergütung erhalten. Für die Behandlung derjenigen chronisch kranken Versicherten, die krankheitsbedingt auch künftig in jedem Quartal mindestens einmal in der Praxis vorstellig werden, würden die Hausärztinnen und Hausärzte aber künftig nahezu ein Fünftel weniger vergütet bekommen. Viele werden sich künftig also für eine intensive Behandlung ihrer chronisch kranken Patientinnen und Patienten eher bestraft als bestärkt fühlen.

Das Ministerium plant zudem, die bisherigen quartalsbezogenen Vorhaltepauschalen zu modifizieren. Sie sollen einerseits die Versorgungspauschale ergänzen und dann jeweils jahresbezogen abgerechnet werden. Somit wird auch diese eigentlich zur Stärkung des Praxisstandorts gedachte Maßnahme der Abrechnungsunsicherheit der Versorgungspauschale unterworfen. Zudem sollen die Abrechnungskriterien verändert werden, indem die Vorhaltepauschale künftig jedoch nur von Praxen abgerechnet werden darf, die bestimmte Strukturmerkmale erfüllen. Spielt man die im Gesetzentwurf genannten Kriterien durch, wären nach aktuellem Stand etwa zwischen 2.000 und 22.000 Praxen davon betroffen, mindestens ein Kriterium für die Vorhaltepauschale nicht zu erfüllen. Da für die Praxen, die die verschärften Kriterien erfüllen, kein zusätzliches Geld zur Verfügung gestellt wird, sondern der bisher für Vorhaltepauschalen aufgewendete Betrag von rund 2,9 Milliarden Euro nur anders verteilt werden soll, läge der zu erwartende Einnahmenverlust für eine Praxis, die hier nicht mehr zum Zuge kommt, je nach Auswahl des Kriteriums zwischen etwa 18.000 bis 100.000 Euro pro Jahr und erreicht für fast alle Kriterien eine existenzgefährdende Größenordnung von 60.000-80.000 Euro jährlich. Hinzu kommt, dass Praxen, die keine Vorhaltepauschale abrechnen dürfen, dann auch keine jahresbezogene Versorgungspauschale abrechnen können sollen, so dass diese für die Behandlung chronisch Kranker kaum noch etwas abrechnen können.

Um es deutlich zu sagen: Die Aufhebung der Budgetgrenzen im hausärztlichen Bereich ist ein wichtiger erster Schritt, auf den die Hausärztinnen und Hausärzte lange gewartet haben. Das wird allgemein positiv anerkannt. Weitere konsequente Entlastungsschritte zu Gunsten der wohnortnahen Patientenversorgung sollten nun folgen. Aber jetzt dies! Auch wenn die genauen Auswirkungen der angestrebten Regelungen zur Änderung der Vergütungsstruktur zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht exakt quantifiziert werden können, ist doch eines klar: Entgegen der politisch formulierten Absicht kommen diese faktisch einer Abrissbirne der hausärztlichen Versorgung insgesamt und insbesondere der hausärztlichen Versorgung der betreuungsintensiven chronisch kranken Versicherten gleich. Man kann nur hoffen, dass der Minister von diesen Vorschlägen schnell wieder Abstand nimmt. In Zukunft wird jede hausärztliche Praxis benötigt. Richtig wäre es daher, weder Abrechnungsunsicherheiten noch Umverteilungen von Vergütungen zu schaffen, sondern mit zusätzlichen Mitteln die Leistungsschwerpunkte zu fördern, die gestärkt werden sollen.“


Datenblatt zur Wirkungsanalyse der Änderungen in der Vergütungsstruktur hausärztlicher Praxen durch das GVSG.

Das Presse-Statement zum Download.
 

Weitere Informationen

Daniel Wosnitzka

Leiter Stabsstelle Kommunikation / Pressesprecher