Zi insights: Expert:innen diskutieren über Reformpotenziale in der Akut- und Notfallversorgung

Strukturierte Ersteinschätzung wird als wichtiges Steuerungsinstrument in der Versorgung von Notfallpatient:innen bewertet // Innovationsfondsprojekt DEMAND Blaupause für bessere Vernetzung in der Akut- und Notfallversorgung

Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) hat gestern Abend im Rahmen seines Livestreaming-Formats „Zi insights“ aktuelle Ergebnisse aus dem Innovationsfondsprojekt DEMAND vorgestellt und mit Expert:innen aus der vertragsärztlichen Praxis diskutiert. Ziel von DEMAND war es, die Steuerung von Patient:innen auf Basis einer strukturierten medizinischen Ersteinschätzung in eine adäquate Versorgungsebene zu evaluieren. Im Fokus stand dabei die Steuerung durch die Patientenservice-Nummer 116117 an ausgewählten Krankenhausstandorten mit einem gemeinsamen Tresen für Notaufnahme und Bereitschaftspraxis.

Seit einigen Jahren wird hart daran gearbeitet, durch eine verbesserte Vernetzung des ärztlichen Bereitschaftsdienstes mit den Notaufnahmen der Kliniken und dem Rettungsdienst Hilfesuchende zur richtigen Zeit in die richtige Versorgung zu lenken. Dies soll die Notfallversorgung in Notaufnahmen und im Rettungsdienst von Akutfällen entlasten, die besser in den Praxen behandelt werden können. In die Reihe dieser Arbeiten gehört das vom Gemeinsamen Bundesausschuss geförderte Modellprojekt DEMAND. Im Rahmen des 2018 unter Leitung des aQua-Instituts begonnenen Projekts hat das Zi die Effekte einer patienten- bzw. versorgungssteuernden Ersteinschätzung auf die ambulante Notfallversorgung evaluiert. Elf der siebzehn Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) waren an dem Projekt beteiligt.

„Oftmals stehen Menschen mit akuten Gesundheitsbeschwerden vor der Frage, ob sie sich an ihre Hausarztpraxis wenden oder sich spontan im Krankenhaus vorstellen sollen. Datenauswertungen zeigen, dass sich jeder zehnte Versicherte im Akutfall an die Notfallambulanz einer Klinik wendet. Mindestens ein Drittel bis etwa die Hälfte dieser Patientinnen und Patienten könnte aber durch eine Vertragsärztin oder einen Vertragsarzt ambulant behandelt werden. Dadurch könnten Ressourcen geschont werden, die eigentlich der Versorgung medizinischer Notfälle dienen. Gerade vor dem Hintergrund, dass insbesondere im Rettungsdienst und an den Notaufnahmen der Kliniken immer häufiger medizinisches Fachpersonal fehlt, versucht die Politik umzusteuern. Seit dem 1. Januar 2020 haben gesetzlich Versicherte deshalb die Möglichkeit, unter der Patientenservice-Nummer 116117 der Kassenärztlichen Vereinigungen eine telefonische Ersteinschätzung der Akutbeschwerden zu erhalten. Die Anrufenden werden dazu von qualifiziertem Personal strukturiert befragt. Die KVen vermitteln auf dieser Grundlage eine der Dringlichkeit angemessene ärztliche Versorgung. Sie werden dabei durch die Software SmED (Strukturierte medizinische Ersteinschätzung in Deutschland) unterstützt“, so der Zi-Vorstandsvorsitzende Dr. Dominik von Stillfried.

Das DEMAND-Projekt liefert nach Zi-Analysen starke Hinweise darauf, dass diese Steuerung effektiv ist. Es konnte gezeigt werden, dass Krankenhausbehandlungen infolge dieses Service-Angebots rückläufig waren; Gesundheitsgefährdungen konnten hingegegn nicht festgestellt werden. Befragungen von Partient:innen im Rahmen des DEMAND-Projekts ergaben eine hohe Zufriedenheit. Große Zustimmungswerte gab es zu den Aussagen, dass die Partient:innen alles sagen konnten, was sie sagen wollten (90,6 Prozent) und dass das Personal genügend Zeit für sie hatte (85,5 Prozent). Zudem war die Bereitschaft der Partient:innen, einer der Empfehlungen zu folgen, sehr hoch (85,4 Prozent). Befragte Expert:innen aus Selbstverwaltung und Praxis urteilten übereinstimmend, dass für eine effektive Steuerung zwingend ein einheitliches Instrument der strukturierten Ersteinschätzung notwendig sei, sowohl in 116117-Servicezentralen als auch am gemeinsamen Tresen von Notaufnahmen und Bereitschaftspraxen.

Dr. Stephan Hofmeister, Facharzt für Allgemeinmedizin und stellvertretender Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), machte mit Blick auf anstehende Gesetzentwürfe zur Weiterentwicklung der ambulanten Akutversorgung und des Bereitschaftsdienstes deutlich, dass die strukturierte Ersteinschätzung einen festen Platz im Gesundheitswesen haben muss. Hilfesuchende in Akut- oder Notfallsituationen benötigten eine Steuerung in die angemessene Versorgung. Dies sei angesichts der Komplexität des Gesundheitswesens keine Einschränkung, sondern ein Service. Wie auch DEMAND belegt habe, verfügten die KVen mit SmED über ein innovatives Instrument zu diesem Zweck.

„Alle Welt redet von Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung. Wir reden nicht bloß. Mit SmED setzen wir eine digitale Lösung ein, die für alle Bürgerinnen und Bürger per Telefon oder Internet zugänglich ist. Wer sich selbst akut behandlungsbedürftig fühlt, kann schnell und sicher festellen, ob eventuell eine lebensbedrohliche Situation vorliegt. Ist dies nicht der Fall, unterstützt das Serviceangebot der 116117, im Akutfall einen der Dringlichkeit angemessenen Termin in einer Praxis zu erhalten oder, falls erforderlich, an ein geeignetes Krankenhaus vermittelt zu werden. Die Software kann zum Beispiel auch von Krankenhäusern eingesetzt werden, um Hilfesuchenden, die mit akuten aber nicht lebensbedrohlichen Beschwerden in Notaufnahmen lange warten müssen, gleich am Tresen einen alternativen Behandlungstermin in einer Praxis zu vermittlen. Das ist aber keine Konkurrenz zum stationären Versorgungsangebot. Es ist vielmehr eine Ergänzung, die bislang gefehlt hat, damit die knappen Personalressourcen im Gesundheitswesen sachgerecht eingesetzt werden können. Der Stellenwert eines solchen Serviceangebots für die Patientinnen und Patienten muss künftig deutlich erhöht werden. Das kann geleistet werden, wenn die erheblichen Vorhaltekosten der KVen und besondere Aufwendungen in den Praxen für Akutbehandlungen auskömmlich und nachhaltig finanziert werden. Hier muss die Politik jetzt bessere Voraussetzungen schaffen. Da die Ressourcen aber auch in der ambulanten Versorgung endlich sind, darf die Inanspruchnahme eines solchen Angebots für Akut- oder Notfälle nicht unbegrenzt sein. Es darf nicht der Eindruck eines neuen parallelen Behandlungsangebots enststehen. Bürgerinnen und Bürger müssen sich des Werts einer solchen Fast-Track-Versorgung bewusst sein. Diese Steuerung muss dann auch verbindlich genutzt werden.“

Auch Dr. Ulrike von Arnim, Chefärztin der Rettungsstelle am Vivantes Klinikum Berlin Neukölln, plädierte für eine effizientere Patientensteuerung zur Entlastung der Notfallversorgung. Auch sie erlebe häufig, dass nicht ausreichend informierte Patient:innen im Zweifel in den Notaufnahmen Behandlung nachfragten. Die Herausforderung eines Ersteinschätzungsinstruments zur Lenkung der Patient:innen bestehe darin, darunter rechtzeitig diejenigen zu erkennen, die tatsächlich in der Notaufnahme behandelt werden müssten.

„Schon seit langem beobachten wir, dass die Gesundheitskompetenz vieler Menschen immer weiter abnimmt. Vielen fällt es angesichts der zunehmenden Komplexität schwer, gesundheitsbezogene Informationen zu verstehen und zu bewerten sowie daraus die richtigen Konsequenzen für ihr eigenes Handeln zu ziehen. Damit nimmt die Unsicherheit zu, welche Versorgungsebene für die jeweiligen Beschwerden die richtige sein könnte. Geringer Sozialstatus, niedriger Bildungsstand, finanzielle Deprivation und auch geringe literale Fähigkeiten korrelieren sehr stark mit geringer Gesundheitskompetenz. Das sehen wir insbesondere in den großen Städten, aber eben nicht nur dort. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das wir durch eine verbesserte gesundheitliche Aufklärung erst langsam in den Griff bekommen werden. Was wir aber jetzt schon in der Hand haben und beherzt nutzen sollten, ist eine strukturierte Ersteinschätzung, die die Sorgen und Nöte der hilfesuchenden Patientinnen und Patienten ernst nimmt. Wir können und müssen es besser in den täglichen Ablauf einbauen. Hilfesuchende, die besser und kontinuierlicher in einer Praxis behandelt werden können, müssen dafür gleich ein passendes Angebot erhalten. Das würde uns sehr helfen.“

Mit dem virtuellen Kommunikationsformat „Zi insights“ stellt das Zi ca. alle acht Wochen kurz und knapp neue Studien- und Projektergebnisse vor, um diese mit Expert:innen und digital zugeschalteten Gästen zu diskutieren.
 

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Daniel Wosnitzka

Leiter Stabsstelle Kommunikation / Pressesprecher