Rechtsgutachten untersucht Haftungsrisiken bei Anwendung von Ersteinschätzungsverfahren in Krankenhäusern

Hilfesuchende dürfen nur in Notfällen in Kliniken behandelt werden // Liegt kein Notfall vor, sind Hilfesuchende in eine Praxis zu leiten // Medizinische Ersteinschätzung haftungsrechtlich ohne ärztliche Prüfung möglich

Seit einigen Jahren beklagen die Krankenhäuser in Deutschland eine massive Überlastung der stationären Notaufnahmen. Dazu trägt auch die Inanspruchnahme der Notfallversorgung durch Patientinnen und Patienten bei, die während der allgemeinen Praxisöffnungszeiten akut in einer Praxis behandelt werden könnten. Mit § 120 Absatz 3b SGB V besteht ein rechtlicher Rahmen, der Krankenhäusern bei der Weiterleitung Sicherheit geben soll. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) ist beauftragt worden, eine Richtlinie vorzugeben. Eine gültige Richtlinie liegt nach Beanstandung des G-BA-Beschlusses durch das Bundesgesundheitsministerium bislang aber nicht vor.  

Eine wachsende Zahl von Krankenhäusern kooperiert aber mit Kassenärztlichen Vereinigungen, um auf Grundlage medizinischer Ersteinschätzungsverfahren, etwa einer Kombination aus dem in Notaufnahmen verbreiteten Manchester Triage System (MTS) und der Software SmED (Strukturierte medizinische Ersteinschätzung in Deutschland), Patientinnen und Patienten, die sich mit akuten Behandlungsanlässen in Notaufnahmen vorstellen, aber keine Notfälle sind, gezielt in eine geeignete und verfügbare Praxis zu leiten. Dies optimiert den Ressourceneinsatz und verkürzt die Wartezeiten für Hilfesuchende.

Vor diesem Hintergrund hat das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) den Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit der Universität Bonn, Professor Dr. Raimund Waltermann, gebeten, den haftungsrechtlichen Rahmen für eine Steuerung der Hilfesuchenden gemäß § 120 Absatz 3b SGB V zu prüfen. Das Rechtsgutachten kommt zu dem Schluss, dass Hilfesuchende – auch ohne gültige G-BA-Richtline – nur in medizinischen Notfällen von einer Klinik behandelt werden dürfen. Liegt kein Notfall vor, müssen die jeweiligen Hilfesuchenden in die ambulante Versorgung weitergeleitet werden. Den Krankenhäusern kommt bei der Organisation dieser Weiterleitung eine besondere Sorgfaltspflicht zu.

Wird die medizinische Ersteinschätzung durch geschulte Sichtungskräfte vorgenommen, ist aus der Perspektive des Haftungsrechts eine zusätzliche ärztliche Prüfung prinzipiell nicht erforderlich. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Fachpersonal nach einem strukturierten Verfahren vorgeht, das geeignet ist, die Hilfesuchenden im Hinblick auf Dringlichkeit und Versorgungsebene einzuordnen. Haftungsrechtlich entlastet werden die Kliniken dabei insbesondere dann, wenn zur Unterstützung des Fachpersonals eine Software eingesetzt wird, die als Medizinprodukt zertifiziert ist.

Bis die entsprechende Richtlinie des G-BA in Kraft tritt, können sich Krankenhäuser bei der Ersteinschätzung und Patientensteuerung an den Gesichtspunkten des § 120 Abs. 3b S. 3 Nr. 1‐6 SGB V orientieren, die durch die G-BA-Richtlinie konkretisiert werden sollen. Soweit diese Gesetzesbestimmungen Kriterien formulieren, kann ein Vorgehen nach den Kriterien haftungsrechtlich nicht als fehlerhaft bewertet werden.
Die vom Bundesgesundheitsministerium beanstandete Erstfassung der Ersteinschätzungsrichtlinie enthält in § 6 Abs. 3 zudem eine – nicht in der Beanstandung erwähnte – Regelung, nach der Kooperationsmodelle zwischen Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenhäusern möglich sein bzw. bleiben sollten. Die Möglichkeit der Kooperation beschränkt sich nicht auf Fälle mit einer (geringeren) Dringlichkeit von mehr als 24 Stunden, sondern eine Steuerung zur ambulanten Behandlung von Hilfesuchenden in Akutfällen, also mit einem Behandlungsbedarf binnen 24 Stunden.

„Durch den sich rasch verschärfenden Fachkräftemangel auf der einen und den steigenden Behandlungsbedarf der nunmehr in den Ruhestand eintretenden Baby-Boomer-Generation auf der anderen Seite werden sich die personellen Ressourcen in den Kliniken ebenso wie in den Praxen weiter stark verknappen. Aus dem vermeintlichen Überangebot kann schnell ein Versorgungsengpass werden. Deshalb ist es wichtig, alle Möglichkeiten einer effizienten Arbeitsteilung zwischen Kliniken und Praxen zu nutzen. Dies ist besonders bei der Behandlung von Patientinnen und Patienten wichtig, die sich mit dringlichen Behandlungsanlässen an das Gesundheitssystem wenden“, sagte der Zi-Vorstandsvorsitzende Dr. Dominik von Stillfried. Nicht lebensbedrohliche, aber akut behandlungsbedürftigen Fälle könnten meist adäquater in einer vertragsärztlichen Praxis behandelt werden. Zugleich würden Kliniken sich auf Notfälle konzentrieren können, so von Stillfried weiter.

„Mehr als 800 Bereitschaftsdienstpraxen, telefonische Ersteinschätzung und Terminvermittlung oder telefonische ärztliche Beratung unter der Rufnummer 116117 sind bereits heute Versorgungswirklichkeit. In der telefonischen Ersteinschätzung und Patientensteuerung haben wir bereits millionenfache Erfahrung. Zudem existieren neue digitale Hilfsmittel zur Ersteinschätzung, Fallübergabe und Anmeldung der Hilfesuchenden in der geeigneten Versorgungseinrichtung. Somit können diejenigen schnell Hilfe bekommen, die sie wirklich brauchen, unabhängig davon, wohin sie sich zuerst gewandt haben. Das vorliegende Gutachten ist ein weiterer wichtiger Baustein, der Krankenhäuser auf dem Wege der besseren Steuerung unterstützen kann. Wichtig ist nun die breitere Anwendung zur Entlastung der Notaufnahmen. Denn mehr Anwendungsfälle, die laufend ausgewertet werden, helfen, einen Versorgungstandard zu etablieren. Auch dies trägt zu einer größeren Rechtssicherheit bei“, bekräftigte der Zi- Vorstandsvorsitzende.
 

Das Rechtsgutachten „Haftungsrechtlicher Rahmen des Einsatzes von Ersteinschätzungsverfahren im Krankenhaus vor dem Hintergrund von § 120 Absatz 3b SGB V“ steht hier zum Download bereit.

Die Medieninformation zum Download.

 

Weitere Informationen

Daniel Wosnitzka

Leiter Stabsstelle Kommunikation / Pressesprecher