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Mai 2025

Zusatzbelastungen für hausärztliche Praxen durch neues Primärarztsystem hängen von konkreter Ausgestaltung ab // Von gut 200 bis zu 2.000 zusätzliche Kontakte pro Jahr möglich // „Bereits jetzt bewegen sich 21 Millionen aller gesetzlich Versicherten innerhalb der politisch vorgesehenen Patientenpfade“

Union und SPD haben sich im Koalitionsvertrag auf ein so genanntes Primärarztsystem verständigt. Der hausärztlichen Praxis kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Die Hausärztin bzw. der Hausarzt soll nach dem neuen System zum Dreh- und Angelpunkt der ambulanten medizinischen Versorgung werden. Sie/Er untersucht die Patientin bzw. den Patienten und entscheidet dann, ob eine Fachärztin bzw. Facharzt – und wenn ja, welcher – hinzugezogen werden muss. Die Überweisung von der haus- an die fachärztliche Praxis soll danach grundsätzlich zur Pflicht werden. Dadurch sollen insbesondere das Praxispersonal entlastet, Wartezeiten auf Facharzttermine verkürzt und die Ausgabendynamik begrenzt werden. Wie das Primärarztsystem konkret ausgestaltet werden soll, ist hingegen noch offen. Bekannt ist, dass die primärärztliche Versorgung durch Haus- und Kinderarztpraxen erfolgen soll. Ein direkter Zugang soll nur bei Augen- und Frauenärztinnen und -ärzten bestehen. Demnach soll für alle anderen Facharztkontakte ein Überweisungsvorbehalt gelten. Da eine medizinisch begründete Steuerung von Patientinnen und Patienten durch Primarärztinnen und -ärzte als Voraussetzung für einen Facharztkontakt zeitliche Anforderungen an die Primärarztpraxen mit sich bringt, wird derzeit diskutiert, ob und ggf. in welchem Umfang diese durch die Neuregelung belastet würden.

Geht man von der heutigen Inanspruchnahme der vertragsärztlichen Versorgung durch die gesetzlich Versicherten aus, lassen sich drei Gruppen von Patientinnen und Patienten unterscheiden:

Erstens, diejenigen, die ausschließlich Haus- bzw. Kinderärztinnen und -ärzte sowie Augen- oder Frauenärztinnen und -ärzte in Anspruch genommen haben (Gruppe 1).
Zweitens, diejenigen, die zusätzlich Ärztinnen und Ärzte anderer Fachrichtungen in Anspruch genommen haben (Gruppe 2).
Drittens, diejenigen, die ausschließlich Ärztinnen und -ärzte anderer Fachrichtungen in Anspruch genommen haben (Gruppe 3). Die mögliche Zusatzbelastung der Primärärztinnen und -ärzte resultiert folglich aus Behandlungswünschen der Gruppen 2 und 3.

In den vertragsärztlichen Abrechnungsdaten des Jahres 2023 für erwachsene Patientinnen und Patienten umfasst Gruppe 3 rund 7,9 Millionen Patientinnen und Patienten mit 12,1 Millionen Behandlungsfällen ohne Überweisung (ohne Berücksichtigung von augenärztlichen oder gynäkologischen Fällen). Geht man davon aus, dass diese Inanspruchnahmen künftig mindestens einen Hausarztkontakt auslösen, entstehen etwa 230 Behandlungsfälle pro hausärztliche Praxis. Geht man zudem davon aus, dass Früherkennungsuntersuchungen und der Zugang zu psychotherapeutischer Untersuchung keine Überweisung erfordert, reduziert sich die Anzahl an Behandlungsfällen ohne Überweisung auf 11,2 Millionen Behandlungsfälle. Dies sind umgerechnet auf die rund 52.000 Hausärztinnen und -ärzte ca. 214 zusätzliche Behandlungsfälle pro Jahr.

Gruppe 2 umfasst 42,7 Millionen Patientinnen und Patienten mit rund 99,7 Millionen Behandlungsfällen ohne Überweisung (ohne Augen- bzw. Frauenärztinnen und -ärzte). Rechnet man Früherkennungsuntersuchungen und die Psychotherapie heraus, resultieren 91,3 Millionen Behandlungsfälle ohne Überweisung. Würde jede dieser Inanspruchnahmen vorab einen Hausarztkontakt auslösen, wären dies 1.757 zusätzliche Kontakte pro Hausärztin/Hausarzt und Jahr. Insgesamt müssten Hausärztinnen und Hausärzte bei einer strengen Ausgestaltung des Primärarztsystems, bei dem vor jedem neuen Facharztkontakt im Quartal eine hausärztliche Überweisung stehen muss, demnach aus Gruppe 2 und Gruppe 3 mit rund 2.000 zusätzlichen Kontakten pro Jahr rechnen.

Das sind die zentralen Ergebnisse einer aktuellen Schwerpunktauswertung zu den möglichen versorgungsseitigen Ableitungen aus der im Koalitionsvertrag skizzierten Konzeptidee eines Primärarztsystems, die das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) heute veröffentlicht hat.

„Die Zahl von rund 2.000 potenziell zusätzlichen Hausarztkontakten als Folge der Einführung eines Primärarztsystems kann durchaus kritisch hinterfragt werden. Denn das Fehlen von Überweisungen als Grundlage für einen Facharztkontakt ist nicht gleichbedeutend mit einer fehlenden Inanspruchnahme der hausärztlichen Versorgung; nicht immer erscheinen auch vorliegende Überweisungen in der Abrechnung. Rund 25,8 Millionen Patientinnen und Patienten in Gruppe 2 (90 Prozent) hatten im gleichen Quartal mindestens einen Haus- und einen oder mehrere Facharztfälle. Veröffentlichte Auswertungen der Inanspruchnahme nach Behandlungsdatum legen nahe, dass Facharztfällen dieser Patientinnen und Patienten zu einem hohen Anteil, nämlich zu etwa 75 Prozent, ein Hausarztkontakt der fachärztlichen Inanspruchnahme zeitlich vorgelagert ist. Somit wäre in diesen Fällen rechnerisch für eine Überweisung kein zusätzlicher Hausarztkontakt notwendig“, sagte der Zi-Vorstandsvorsitzende Dr. Dominik von Stillfried. Auf dieser Grundlage blieben aus Gruppe 2 jährlich nur 34,2 Millionen Behandlungsfälle bzw. rund 600 zusätzliche Kontakte pro Hausärztin und Hausarzt im Jahr. Die Zahl werde noch geringer, wenn bei diesen Patientinnen und Patienten zusätzlich mindestens ein Hausarztfall im Vorquartal berücksichtigt wird, bei dem die Überweisung hätte veranlasst werden können (8,8 Millionen Behandlungsfälle insgesamt bzw. rund 169 zusätzliche Kontakte pro Hausärztin bzw. Hausarzt), machte von Stillfried deutlich. Bezieht man auch die 214 Kontakte mit ein, die aus Behandlungsfällen der Gruppe 3 resultieren, ergibt sich für die Hausärztinnen und Hausärzte ein rechnerisches Minimum von insgesamt rund 380 zusätzlichen Kontakten pro Hausärztin bzw. Hausarzt infolge eines Überweisungsvorbehalts. Dies wären etwa zwei zusätzliche Kontakte pro Tag und Hausarztpraxis. Der zusätzliche Zeitaufwand je Patientin bzw. Patient dürfte dabei auch davon abhängen, ob diese der Praxis bereits über einen längeren Zeitpunkt bekannt sind.

„Entscheidend für die Zusatzbelastung der Hausarztpraxen durch ein Primärarztsystem wird daher dessen gesetzgeberische Ausgestaltung im Detail sein. Solange der Quartalsbezug gilt und vor jeder fachärztlichen Inanspruchnahme eine Überweisung irgendeiner Primärarztpraxis vorliegen muss, dürfte die Zusatzbelastung am höchsten ausfallen. Sie kann bereits dadurch reduziert werden, dass Patientinnen und Patienten sich längerfristig an eine bestimmte Primärarztpraxis binden. Sofern dann auch die Fachärztin bzw. der Facharzt auf Basis einer initialen Überweisung aus der hausärztlichen Praxis im Rahmen seines Behandlungsauftrags selbständig weitere Fachärztinnen und Fachärzte hinzuziehen kann und der Quartalsbezug sowohl für die Behandlung der Hausärztin/des Hausarztes als auch für die Geltung von Überweisungen gelockert wird, dürfte die Zusatzbelastung minimal gehalten werden können. Bemerkenswert ist, dass sich bereits heute rund 21 Millionen gesetzlich Versicherte so verhalten, als gebe es ein Primärarztsystem. Da diese Patientinnen und Patienten von den an sich vorgesehenen Versorgungspfaden nicht abweichen, dürfte sich für sie wenig ändern“, so der Zi-Vorstandsvorsitzende abschließend.


Bildunterschrift:
Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi):
Anzahl der in einem neuen Primärarztsystem pro Jahr potenziell anfallenden zusätzlichen hausärztlichen Kontakte von gesetzlich Versicherten in Deutschland (je nach politischer Ausgestaltung)

Datenbasis:
Eigene Berechnungen des Zi
 

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Weitere Informationen

Daniel Wosnitzka

Leiter Stabsstelle Kommunikation / Pressesprecher